Ende Oktober wird auch in Schweden die Uhr auf Winterzeit umgestellt und eine Stunde zurückgedreht. Wir fahren von Arvidsjaur in Richtung Jokkmokk und passieren erneut den nördlichen Polarkreis. Auf den angepeilten Stellplätzen stehen wir leider vor verschlossenen Türen bzw. Schranken. Ein Platz ist schon im Urlaubsmodus und schickt uns weiter zum Nächsten, der wiederum hat am Wochenende nicht für spontan Reisende geöffnet.
Das Campingklo ist voll, das Wasser fast leer und so fahren wir weiter, um unser Glück an anderer Stelle zu versuchen. Die Dämmerung setzt langsam ein, und wir sind fast alleine unterwegs auf den vereisten Straßen. Gestreut wird hier oft nur mit Kies oder Sand, selten mit Salz. Hier ist schon eine Weile kein Winterdienst mehr durchgefahren.
Wir sind mehr als froh, dass wir uns vor ein paar Tagen Spikereifen auf unserem fahrenden Zuhause montiert haben lassen.
Wir fahren in die Dunkelheit und haben nur unser Scheinwerferlicht, das uns den Weg weist. Hier in der Gegend gibt es kein Restlicht, denn Städte im näheren Umkreis gibt es nicht. Unsere Scheinwerfer wirken in der Dunkelheit des Waldes wie das Licht einer Kerze. Vielleicht optimieren wir hier auch noch etwas.
Wir landen auf einem Rastplatz in dem kleinen Örtchen Porjus und freuen uns über die kostenlose Versorgungsstation, die es hier gibt. Die Häuser sind hier wie an vielen anderen Orten in Nordschweden schon wunderschön festlich beleuchtet, und bei uns kommt doch tatsächlich die erste Weihnachtsstimmung auf. Es ist das letzte Oktoberwochenende, wir hören das erste Mal in diesem Jahr „Last Christmas“, und draußen fährt ein Räumfahrzeug vorbei, um ordentlich Sand auf die Straße zu streuen.
Niemals hätten wir uns vor ein paar Wochen gedacht, dass wir mal auf einem solchen Platz übernachten. Wir haben festgestellt, dass hier im Norden von Schweden die Uhren anders ticken und man bedenkenlos an einem Rastplatz stehen kann. Hier verbringen wir eine sehr ruhige Nacht.
Am Morgen werden wir von einer Sirene geweckt. Unser Übernachtungsplatz befindet sich an einem Staudamm, und der Ton kündigt an, dass die Schleusen geöffnet werden, um unfassbar große Wassermassen hinabstürzen zu lassen. Wir beobachten das Spektakel aus der Entfernung, bevor unsere Fahrt weiter nach Gällivare geht. Dort übernachten wir auf einem Stellplatz und genießen den verschneiten Blick aufs Dundret, einen 823 Meter hohen Berg, der seit 1970 zu einem Naturreservat gehört. Industrieromantik inklusive, denn der Platz liegt hinter dem Bahnhof.
Natürlich geht das Gas immer in den besten Momenten aus, mitten in der Nacht oder auch gerne sonntags, wenn kein Gasfachmarkt oder Baumarkt geöffnet oder in der Nähe ist. So kaufen wir in Gällivare die wahrscheinlich teuerste Gasflasche für 609 Schwedische Kronen an einer Tankstelle.
Die Winterzeit bringt die frühe Dunkelheit mit sich, und so geht die Sonne hier heute schon um 14:59 Uhr unter. Täglich verlieren wir aktuell bis zu 8 Minuten Sonnenlicht. Ende November gibt es hier nur noch ungefähr 3 Sonnenstunden. Der Schnee lässt das alles nicht allzu düster wirken und knistert beim Laufen unter unseren Schuhen.
In den Polarregionen gibt es im Winter sogenannte Polarnächte. Am geographischen Nord- und Südpol dauert die Polarnacht fast ein halbes Jahr. Bei den Polarkreisen dauert es genau einen Tag. Sie ist das Gegenteil zum Polartag, der mit seiner Mitternachtssonne im Sommer 24 Stunden Helligkeit mit sich bringt.
Am nächsten Morgen ist es windstill, die Sonne versucht durch die dicke Wolkenschicht zu blitzen, und das Thermometer zeigt -9 Grad. Wir saugen die eiskalte, klare Luft in uns ein und lassen die Eisenbahn- und Industrieromantik nochmal auf uns wirken, bevor wir zum nächsten Supermarkt fahren.
Dort angekommen, heißt es Vorsicht: nicht ausrutschen, hinfallen oder Beine brechen. Wie schon erwähnt, wird hier mit Kies und Sand gestreut und wie die Straßen, so ist auch der gesamte Parkplatz vereist. Es ist Zeit, dass nicht nur unsere Reifen, sondern auch unsere Schuhe Spikes bekommen.
Es bleibt alles heile, und wir fahren heute nur eine kurze Strecke. Wir landen mitten im Wald an einem See bei Lansjärv. Der Stellplatz wird von Einheimischen zur Verfügung gestellt und darf auf Spendenbasis genutzt werden. Wir freuen uns sehr darüber und basteln einen Briefumschlag mit einem kleinen Unkostenbeitrag, den wir dankend in den kleinen Kasten einwerfen.
Bei Ankunft ist es 14 Uhr, und der Himmel stellt sich schon langsam auf den nahenden Abend ein. Wir drei nutzen die restlichen Sonnenstrahlen des Tages und genießen die Zeit am See. Das Wasser ist mittlerweile gefroren, und es sieht so aus, als wäre die Zeit vor einem Moment stehen geblieben. Eben war dort noch eine kleine Welle in Bewegung, und nun ist sie für viele Monate zu Eis erstarrt. Thorsten schickt die Drohne gen Himmel, und Teddy tollt vergnügt im gefrorenen Sand herum.
Der Platz ist wunderschön, und wir können uns gut vorstellen, was hier im Sommer für ein Treiben herrscht. Obwohl hier und da vereinzelte Häuser stehen, stellen wir erneut fest, dass wir uns vor einigen Wochen niemals an einen solchen Ort gestellt hätten, um dort zu übernachten.
Heute ist Halloween und wir stehen am abgelegensten Platz, an dem wir jemals waren, wie unheimlich.
Das einzig Gruselige, was wir erleben, ist nicht die Dunkelheit, die das Licht unserer Stirnlampe einfach zu verschlucken versucht, sondern ein Vogel, der in der Ferne schreit und die Stille der Nacht durchbricht.
Am nächsten Morgen brechen wir wieder in Richtung Küste auf.
Wir fahren raus aus dem Schnee und rein in das nasskalte Herbstwetter, das dort ab morgen wieder Einzug hält. Das Auto sieht aus wie ein Dreckspatz, und unsere Scheibenwischer müssen ausgetauscht werden.
Die Sonne scheint mit voller Kraft auf den nassen Asphalt. Die Reflexion ist so stark, dass wir sehr oft rechts ranfahren müssen, um den Augen eine kurze Entspannungspause zu gönnen. LKW Fahrer stört der tiefe Sonnenstand nicht, und sie rauschen an uns auf der E10 vorbei. PKWs hingegen nehmen unsere langsame Fahrweise dankend an und nutzen uns als Sonnenschirm, um nicht selbst geblendet zu werden.
Wir landen wieder in Sangis und freuen uns darüber, dass auch hier schon die Weihnachtsstimmung ausgebrochen ist, und die ersten Weihnachtsbäume und Häuser in einem wunderschönen Lichterglanz erstrahlen.
Auch für unser Auto haben wir ein neues Licht. Während sich die Mechaniker in der Werkstatt austoben und eine Lightbar auf dem Dach anbringen, machen wir einen Spaziergang durch den Wald. Unsere Stirnlampe haben wir zwar dabei, lassen sie aber bewusst ausgeschaltet. Die Augen gewöhnen sich unglaublich gut an die Dunkelheit. Mittlerweile liegt auch hier der erste Schnee. Unser mulmiges Gefühl, das wir zu Beginn alleine im Wald hatten, ist nicht mehr spürbar.
Und wieder sind wir in der letzten Wildnis Europas keinem einzigen Tier begegnet. Wir sind uns aber sicher, dass uns schon öfter mal eines beobachtet hat.
Zurück in der Werkstatt genießen wir im Aufenthaltsraum eine heiße Schokolade und sitzen das erste Mal seit 4 Monaten wieder auf einem Sofa.
Unser neues Licht ist im wahrsten Sinne der helle Wahnsinn. Wir sind sehr zufrieden und fühlen uns jetzt auch sicherer, wenn wir auf den dunklen Straßen Nordschwedens unterwegs sind.
Nach wie vor ist die Depression mein Begleiter. Natürlich hat keiner erwartet, dass man im Juli ins Auto steigt und sie von heute auf morgen verschwindet. Im Gegenteil. Gerade jetzt hat man Zeit, um den Blick nach innen zu richten. An manchen Tagen fällt es immer noch schwer, sich auszudrücken, die richtigen Worte zu finden. Oft gewinnt auch die Schusseligkeit an Übermacht und lässt einem alles aus den Händen gleiten. Und manchmal ist da wieder diese Traurigkeit und innere Unruhe. Alles davon darf da sein, und ich lerne es anzunehmen.
Das Thema Depression ist in unserer Gesellschaft allgegenwärtig. Es gibt so viele Betroffene: Männer, Frauen, Erwachsene, Kinder, Jugendliche. Wie oft wird die Frage nach dem Befinden gestellt? "Wie geht es Dir?" Bekommt man und gibt man immer eine ehrliche Antwort darauf? Oft ist es doch nur eine Floskel am Anfang eines Gesprächs.
Über die seelische Krankheit Depression zu sprechen, ist für viele ein unangenehmer Punkt, ja vielleicht sogar ein Tabuthema.
Doch woran liegt das?
Liegt es daran, dass man trotz einer Depression auch mal lachen kann?
Dass man äußerlich oft keine Anzeichen erkennen kann?
Es ist okay zu sagen, wenn etwas nicht okay ist! Sprecht offen darüber und nehmt euch die Zeit und hört zu.
Während unserer Reise sind uns viele Menschen begegnet, die offen über Depressionen sprechen. Denn sie hatten selbst einmal eine. Eigentlich verrückt, dass Fremde ihre Geschichte ohne zu zögern, mit einem teilen.
Das Schreiben ist eine gute Art von Therapie. Das schönste ist aber das Lachen. Wir lachen sehr viel - gemeinsam; über den anderen und vor allem (wieder) über uns selbst.
Natürlich tut es auch manchmal gut, einfach drauf loszuheulen, und auch das ist in Ordnung.
Meditation und die dabei entstehende Stille helfen mir sehr, die innere Balance zu halten. Man konzentriert sich automatisch wieder auf das Wesentliche und das Wichtige: die Liebe, das Lachen und das Glück, das einen umgibt. Es klingt kitschig, aber letztendlich geht es doch genau darum im Leben.
Das Gedicht von Ernst Ferstl, einem österreichischen Lehrer, Dichter und Aphoristiker, begleitet mich auf meinem Weg:
In der Stille angekommen,
gehe ich in mich,
stehe ich zu meinen
Stärken und Schwächen,
liegen mir mein Leben
und die Liebe am Herzen.
In der Stille angekommen,
sehe ich mich, dich, euch
und die Welt mit anderen Augen,
mit den Augen des Herzens.
In der Stille angekommen,
höre ich auf mein Inneres,
spüre ich Geborgenheit,
lerne ich Gelassenheit,
tanke ich Vertrauen.
Auch die Natur zaubert einem jeden Tag ein Lächeln ins Gesicht. Während die Temperaturen nun Mitte November dauerhaft unter den Gefrierpunkt wandern und sich dort festsetzen, entdeckt man jeden Tag wunderschöne Elemente, Formen und Farben:
Der Flügelschlag zweier Vögel auf der Wasseroberfläche des Flusses durchbricht die Stille am Morgen.
Mit Raureif bedeckte Baumwipfel und Sträucher wiegen sich im Wind.
Zu Eis erstarrte Regentropfen hängen an kahlen Ästen wie kleine Glitzer Kügelchen.
Eine dünne Eisschicht beginnt über die Seen und Flussufer zu ziehen.
Die Sonne steht tief am Horizont und wirft lange Schatten.
Mit Tautropfen überzogene Grashalme glitzern in der Sonne in allen Farben.
Eine kleine Meise kommt öfter zu Besuch und schaut durchs Dachfenster zu uns rein.
Winterhimmel zaubern einen magischen Sonnenuntergang.
Das Eis beginnt auf wundersame Weise Musik zu spielen.
Die vereiste Landschaft wirkt im Schein des Mondes wie ein Meer aus kleinen Diamanten.
Die Natur ist wunderbar!
Genießt jeden Tag, geht raus, lacht so viel ihr könnt und schätzt all die wunderbaren Momente, die das Leben zu bieten hat.