(18) Jante, Lagom & Besserwisser

Wir besichtigen Europas größte und ungeregelte Stromschnelle Storfosen am Piteälven. Mit einer Fallhöhe von über 80 Metern werden dort pro Sekunde 250 Kubikmeter Wasser ungebremst ins Tal hinab gewälzt. Nach der Schneeschmelze im Frühjahr erreicht der Wasserfluss sogar über 850 Kubikmeter pro Sekunde. Storfosen beginnt im Bergmassiv Sulitema, nahe der norwegischen Grenze. Das Wasser fließt durch Norrbotten und mündet nahe Piteå in den Bottnischen Meerbusen.

Bereits im 19. Jahrhundert wurde die Kraft des Wassers hier genutzt, um Holz vom Landesinneren an die Küste zu transportieren. Damit das Holz besser passieren konnte, wurden zwischen 1878 und 1945 die breiteren und damals flacheren Stromschnellen umgeleitet. Ein Holzsteg führt uns zu einer Aussichtsplattform, auf der wir genau im richtigen Moment ankommen, um die letzten Sonnenstrahlen des Tages einzufangen. Noch bevor ich ein Video von den tosenden Bewegungen des Flusses machen kann, geht mein Handyakku leer. Thorsten hält die Kulisse aber in wundervollen Fotos für uns fest. Auf den Klippen findet man überall Grillplätze, um dort Rast zu machen. Wir sind heute ganz alleine unterwegs.


Der Norden Schwedens in Norrland (Norrbottens Län) ist, ausgehend von ganz Europa, die am dünnsten besiedelte Region. Flächenmäßig macht Norrland knapp 60 % der 528.447 km² schwedischen Gesamtfläche aus, die Bevölkerungsdichte liegt hier oben bei 2 Einwohnern pro km2. Historisch nennt man den Norden Schwedens auch die Provinz Lappland. Ursprünglich stammt das Wort aus dem Finnischen. Daraus lässt sich leicht vermuten, dass die Urbevölkerung, die Samen, auch als „Lappen“ bezeichnet werden. Jedoch ist das Wort abwertend und wird als Beleidigung angesehen. In der samischen Sprache bedeutet es „Ausgestoßene“. Im frühen Sprachgebrauch wurde es genutzt, jedoch ist nicht ganz klar, wie es damals genau entstanden ist. Vermutlich ließ es sich von dem altfinnischen Wort lappe(e)a, was Rand bedeutet, ableiten.

Die Temperaturen ziehen an und nicht nur der Steg wird langsam von Eiskristallen bedeckt, sondern auch die Straße. Unser Auto meldet Glatteisbildung. So ganz abgeschieden wollen wir nicht alleine stehen und peilen einen geöffneten Stellplatz in Älvsbyn an. Bei Ankunft ist es schon stockdunkel. Es stellt sich heraus, dass der Betrieb für die Saison aber doch schon geschlossen hat. Wir erreichen den Besitzer per Telefon und haben Glück. Er wohnt ganz in der Nähe und kommt wenig später angefahren, um uns zu einem Wintercampingplatz an einem Skilift zu lotsen. Dort dürfen wir übernachten und das völlig kostenlos. Er möchte einfach nur, dass wir sicher stehen und eine ruhige Nacht haben, um Schlaf für die Weiterfahrt zu tanken. Gerne dürfen wir auch jederzeit wieder auf dem Platz stehen, wenn wir in der Nähe sind. Für uns ist das keine Selbstverständlichkeit und wir möchten uns am nächsten Morgen bei ihm mit einer Flasche Wein und einer Schachtel Pralinen bedanken. So halten wir ein Auto auf dem Platz an, dessen Fahrer zufällig den Besitzer kennt und seine private Nummer hat. Nachdem wir uns also nochmals telefonisch für seine Hilfsbereitschaft und Gastfreundschaft bedankt haben, überreichen wir seinem Bekannten unser Dankeschön. Obwohl es nicht für ihn selbst und er nur der Überbringer war, strahlte er uns eine unglaubliche Freundlichkeit entgegen.

Unsere Fahrt geht weiter nach Laver, einer ehemaligen Gemeinde, in der von 1936 bis 1947 Kupferbergbau betrieben wurde. Während damals noch etwa 350 Menschen dort wohnten, ist es heute eine Geisterstadt. Es ist ein toller Fotospot, und überwiegend sind noch die alten Fundamente erhalten. Damals gab es ein reiches Angebot für die Bewohner des Ortes. Neben einem Lebensmittel- und Süßigkeiten-Laden, gab es eine Tankstelle, einen Friseur, ein Kino, eine Bücherei und ein Café. 1937 wurde eine Schule für die 20 Kinder im Ort gebaut, unterrichtet wurden sie von 2 Lehrern. Der Fußballclub in Laver bekam den Namen „Dynamite“, was ziemlich passend für einen Sportclub in einer Bergbau-Gemeinde war. Heute ist der Tagebau mit Wasser gefüllt und hat eine Tiefe von über 100 Metern.

Wir fahren weiter und landen in Arvidsjaur.
In den Wintermonaten sind in den Regionen rund um Arvidsjaur und Arjeplog nicht nur viele Hundeschlitten unterwegs, sondern auch viele PS-Schlitten. Hier prüfen große Autohersteller ihre neuen Fahrzeuge und Reifen auf Herz und Nieren. So ist es kaum verwunderlich, dass einem hier und da ein Erlkönig über den Weg fährt.

Ein perfekter Ort, um unserem Kastenwagen Spike-Reifen zu verpassen. Wir klappern mehrere Autowerkstätten ab und erhalten bei einem Laden für Quads und Schneemobile das beste Angebot. Freitags sagen wir zu und können schon am Montag drauf zum Termin kommen. 

Noch sind die Straßen frei, und die Spikes der Reifen rattern auf dem Asphalt. Wir sind gespannt, wie die Fahrt bei glatten Straßenverhältnissen sein wird. Lange kann es nicht mehr dauern, bis der erste Schnee hier fällt.


Da gibt es eine Vielzahl an Menschen, die wir bisher auf unserer Reise durch Skandinavien kennenlernen durften: Kommunikative, Weltoffene, Kreative, Aussteiger, Skeptiker, Abenteurer, Zurückgezogene, Aktive, Andersdenkende, Reisende.
Und obwohl sie alle manchmal so unterschiedlich und fremd wirken, haben sie doch eines gemeinsam. Jeder Einzelne von ihnen hat den Mut, sich Träume zu erfüllen und manchmal auch sich komplett neu zu erfinden. Es gibt viele Menschen, die hier im Norden Schwedens landen, um Natur und Kultur zu erleben und bewusst die Ruhe in den Weiten des Landes zu suchen. In Schweden lebt man „lagom“ und „Jante“, beides sind wichtige Teile der Kultur und werden im Nachfolgenden kurz erklärt. Wahrscheinlich auch ein Grund, warum wir hier länger als ursprünglich geplant bleiben.


Für das Wort Lagom gibt es im Deutschen keine direkte Übersetzung. Es bedeutet so viel wie „angemessen“, „genau richtig“, „nicht zu viel und nicht zu wenig“. Es ist ein Zustand der perfekten Balance in allen Lebensbereichen; auch die Umwelt, das friedliche Miteinander und man selbst, werden in Einklang gebracht. 


Der gesellschaftliche Verhaltenskodex „Jantelag“, welcher in der gesamten Kultur deutlich spürbar ist, wird auch das Gesetz der Genügsamkeit oder das Gesetz des Jante genannt. „Du sollst nicht glauben, dass du etwas Besseres bist!“ - In diesem Sinne ist jeder gleich und keiner besser oder schlechter als der Andere, unabhängig vom sozialen Status.
Beim Kennenlernen unter Schweden wird nicht gleich aufgetrumpft, indem man seinen Arbeitstitel oder neueste Errungenschaft aus dem Ärmel schüttelt. Angeben oder Besserwisserei ist verpönt. Wie witzig, dass das deutsche Wort „Besserwisser“ im schwedischen Wortschatz als „besserwisser“ einen Platz gefunden hat. Woher das wohl kommt?


Auch in der Region rund um Arvidsjaur kommen wir mit vielen Menschen in Kontakt, die ihre persönliche Geschichte mit uns teilen. In Auktsjaur,
Tjappsåive und Vuotner - egal, wo wir sind, wir werden überall herzlich empfangen und verbringen wundervolle Stunden in toller Gesellschaft. Wir wurden mit Kaffee begrüßt, für uns wurde frischer Preiselbeerkuchen gebacken, wir wurden in die heimelige Atmosphäre im Schwedenhaus eingeladen, es gab Raclette, unseren ersten Wildburger und viele interessante Gespräche.
Wir denken gerne zurück an beeindruckende Sonnenuntergänge, spontane Kaffee-Treffen an der Tankstelle, ganz wunderbare Abende am Lagerfeuer in der Grillkota, die bisher schönsten Polarlichter, eine weitere gemeinsame Husky-Trainingsrunde durch Schwedens Wälder, unsere Kauz Rettungsaktion, der sich in einer Scheune verirrt hat, und unsere erste Fahrt auf einem Quad bei strahlendem Sonnenschein - und natürlich, auch an all die vielen Fellnasen wie Stella, Venus und Alaska, in die sich Teddy mal wieder unsterblich verliebt hat.

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